BernAngst, nicht zu genügen: Parlament laufen die Frauen davon
In Bern war man stolz darauf, schweizweit am meisten Frauen im Stadtparlament zu haben. Die Quote ist jedoch innert drei Jahren dramatisch gesunken.
Darum gehts
Die Frauenquote im Berner Stadtparlament ist von knapp 70 auf knapp 54 Prozent gesunken.
Als Gründe werden strukturelle Faktoren und persönliche Ansprüche, die Frauen an sich selber stellen, vermutet.
Politikerinnen empfinden offenbar oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Bei den letzten Wahlen wurden knapp 70 Prozent Frauen in das Berner Stadtparlament gewählt – ein Schweizer Rekord. Doch nun, gut drei Jahre später, hat sich die Situation grundlegend geändert: 25 Frauen haben während dieser Amtszeit ihr Mandat niedergelegt, wodurch der Frauenanteil auf knapp 54 Prozent gesunken ist.
«Ein enormes strukturelles Problem»
Die Gründe für diese vermehrten Rücktritte sind laut der «NZZ am Sonntag» vielfältig. Viele Frauen haben in ihren Rücktrittsschreiben die Herausforderungen betont, die sich aus der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und politischem Amt ergeben. Valentina Achermann, Präsidentin des Stadtrats, sieht darin ein «enormes strukturelles Problem».
Die Situation für junge Mütter, wie Vanessa Salamanca (36), die Ende 2022 für das Grüne Bündnis ins Parlament gewählt wurde, sei besonders herausfordernd. Als Teil einer reinen Frauenfraktion stand sie kurz darauf vor der Herausforderung, zum zweiten Mal schwanger zu sein. Salamanca erzählt: «Es war mir wichtig, meine Schwangerschaft im Parlament nicht offensichtlich zu machen. Ich wollte weiterhin als starke und unabhängige Frau wahrgenommen werden. Gleichzeitig litt ich oft unter Übelkeit und extremer Müdigkeit. Einmal musste ich mich sogar hinten im Saal hinlegen, um von dort aus abzustimmen, weil es anders nicht mehr möglich war.»
Streben nach Perfektion
Neben strukturellen Faktoren seien es auch persönliche Ansprüche, die Frauen dazu veranlassen würden, zurückzutreten. Viele würden sich selbst hohe Massstäbe setzen und danach streben, ihre Arbeit perfekt zu erledigen und perfekt vorbereitet zu sein.
Wenn sie dieses Ziel nicht erreichen, empfänden sie oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. In Gesprächen geben laut der «NZZ am Sonntag» die meisten Frauen, die zurücktreten, an, dass sie Angst hatten, den Anforderungen ihres Amtes nicht mehr gerecht zu werden.
Hast du manchmal das Gefühl, im Job oder in der Schule nicht zu genügen?
Grössere Gelassenheit bei männlichen Ratsmitgliedern
Für Eva Chen von der Alternativen Linken (AL) ist ihre «weibliche Sozialisation» mit ein Grund für den Rücktritt. Sie sei sehr pflichtbewusst, wolle alles richtig machen und mache sich zu viele Gedanken, was andere über sie denken würden. Bei männlichen Ratsmitgliedern habe sie tendenziell eine grössere Gelassenheit festgestellt.
Die AL, Chens Partei, erlebt einen starken Rückgang der weiblichen Mitglieder. Obwohl bei den Wahlen 2020 drei AL-Politikerinnen in den Rat gewählt wurden, ist heute nur noch eine Frau als Parteivertreterin übrig – und selbst das nur durch eine fragwürdige Taktik, wie 20 Minuten zuerst aufgedeckt hatte. Vor etwas mehr als einer Woche hatte die AL die Nachfolge für Chen bekannt gegeben. Es ist Muriel Graf, eine ausgebildete Sozialarbeiterin.
Nachfolgerin stand nicht auf AL-Liste
Diese Nominierung beinhaltet jedoch einigen Zündstoff. Denn: Graf hatte 2020 nicht auf der Liste der AL kandidiert. Auf der Liste hätten nur Männer nachrutschen können. Die potenziellen Kandidaten sagten deshalb allesamt ab und liessen Graf, die selber auf der Juso-Liste den siebten Platz aller Kandidierenden geholt hatte, den Vortritt.
Die AL monierte, die Frauenmehrheit im Stadtrat sei nur noch hauchdünn. Muriel Graf hat bei den Wahlen 2020 nicht auf der AL-Liste kandidiert – und wird jetzt also trotzdem Stadträtin für die AL.
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